einsame Idylle am Marienteich | © Paul Hoffmann 2022

Winterbrockenüberschreitung XL

15.02.2022

Winterbrockenüberschreitung XL oder kleine Harzdurchquerung in 29 Stunden

Leider fällt die DAV-Traditionstour "Brockenüberschreitung" am Sonntag für mich flach, weil ich arbeiten muss. Dafür hab ich jetzt am Wochenanfang frei und mache meine eigene Tour. Ziemlich spontan überlegt, und ich habe mehr als nur einen Tag Zeit, ätsch!

Montag früh im Zug: Die Aussicht ist zwar sehr begrenzt, aber tolle Sonne blitzt zwischen den Sitzlehnen durch. Bei Bäckerinnen werde ich regelmäßig schwach – ob ich die Magdeburger Leckereien bis zum Ausstieg schaffe? Soll ja nicht ins Gepäck das Gebäck... Umstieg beim langsamsten Organisten der Welt (John Cage) in Halberstadt. Die Sonne brennt!

10h In Goslar finde ich an fast jeder Ecke Schilder zum Besucherbergwerk Rammelsberg, und dort eine gute Gelegenheit, eine Merinoschicht abzulegen: Ich hab's wirklich übertrieben. Im Wald dann auf immerhin 650m Höhe der 1. Verhauer, wie Uwe sagen würde: Diesen winzigen Abzweig muss man erstmal sehen. Nur weil mein Smartphone-GPS jetzt endlich wieder Signale interpretiert, komme ich drauf - und auf den rechten Weg zurück.

Das Königreich Romkerhall erreiche ich zuletzt über 500m ätzend große Straße, flüchte noch schnell hoch zum Wasserfall-Einlauf – und nehme dabei den falschen Abzweig, was mir eine kleine Kletterei beschert. 1. Pause nach 2:45h und 12km, genau Mittagszeit, es gibt Brot & Tee und Sonnenmilch an einem wirklich schönen Fleckchen. Läuft!
Ich muss Umwege über von Holztransportern völlig zerfahrene Matschwege machen und sehe bald, wieso: Ein riesiger Steinbruch erklärt sie. Leider kommen danach ein paar Km Teer-Zufahrtstraße mit zig steinbeladenen LKWs, die sind aber auch mächtig gewaltig.

15:30h 2. Pause in einem Unterstand am Basteborn, nachdem die angesteuerte Marienteichbaude leider heute geschlossen hatte. 21km, es zieht sich, und ich sorge mich langsam um eine warme Mahlzeit heute (zurecht, wie sich später herausstellt!). Die Schultern schmerzen wie 15kg-Rucksack, stimmt ja auch. Die Sonne hat sich schon eine Weile verzogen, es pustet kräftig den ganzen Tag. Nach 15 Minuten treibt es mich schon weiter, denn der Brocken zeigt sich noch in erschreckender Ferne...

17:50h Nach 31,5km endlich am Scharfenstein! Bin ganz schön k.o., seit einer halben Stunde ist es Streckenrekord für mich. Nur noch 4km zum Brocken – aber auch 500 Höhenmeter. Hunger, Durst!!! Weiß wirklich nicht, wie weit ich es noch schaffe. Jetzt wird es dunkel, aber es kommen nur noch eindeutige Wege, es ist fast Vollmond und ich habe eine Stirnlampe.

19:15h Eigentlich will ich nur alle 50mH kurz verschnaufen, aber ich brauche immer mehr Pausen. Jetzt sitze ich 200mH unter dem Gipfel in einer Schutzhütte, die sich auch gut zum Schlafen eignen würde. Hab aber kein Wasser mehr. Also: beißen...!

20:00-20:30h Brockengipfel. Die Hoteldame darf mich nicht reinlassen, schenkt mir aber einen Liter Mineralwasser. Jetzt geht es besser (eigentlich schon nach der letzten Pause). Die übergezogenen Grödel-Schneeketten brauche ich nur für die ersten Meter, die Brockenstraße ist geräumt und der flache Goetheweg plattgetreten.

22:30h Am Dreieckigen Pfahl mache ich eine längere, äh, Pause. Nur noch schwacher Wind, an Tieren nur Wildgänse, ferne Windgeräusche.

Dienstag sehr früh lasse ich die Wurmberg-Idee sausen und starte kurz entschlossen im Stirnlampenschein durch mühsamen Schnee Richtung Schierke. Dort fülle ich in der Jugendherberge mein Wasser auf und muss ein reichliches Frühstücksbuffet ansehen – ist aber nur für Hausgäste. Schade! Ebenso, dass der Bäcker im Ort heute erst mittags öffnet. Bis zur Supermarktöffnung um 8 Uhr warte ich geduldig, chatte kurz und überlege mir eine Route über Drei Annen nach Blankenburg. Wenn's mir doch zu viel wird, kann ich unterwegs die Brockenbahn nehmen. Mein Frühstück ist billig (6€) und doch reichlich mit heißem Kakao, Croissants, Kuchen, Salzgebäck und Joghurt. Geht alles weg wie nix. Hier im Markt ist es warm, mir bleibt trotzdem kalt. Auf geht's!

Selten auf meiner Tour: An der Spinne kommt mir ein Wanderer entgegen. Simultan fragen wir uns gegenseitig nach der weiteren Wegbeschaffenheit. Die fast durchgehende Schneedecke wird vor dem Hohnehof aufhören. Wieder erschreckend kahle Flächen, wo früher mal Wald war.

Der Bach neben mir schlängelt sich anmutig in „zillierlichen“ Kurven durch den lichten Wald, an seiner sehr unspektakulären Talsperre gibt es schon die 2. Rast heute. Ich werde zwar dank guter und weniger zerfahrener Wege wieder schneller (17km in 3:48h), aber ich könnte jammern, wenn jemand fragen würde: Füße, Wade, Schultern, dazu eine Laufnase – und Männerschnupfen ist ja bekanntlich besonders schlimm...

12:15-35h Pause am Büchenberg. Meine GPS-Uhr gibt hier auf, die restliche Strecke muss ich schätzen. Bald geb ich wohl auch auf, bin ganz schön fertig.

13:25-50h Pause am Volkmarskeller. Hab bis hierhin durchgezogen, aber viel geht nicht mehr heute. Eggeröder Brunnen war ein hübsches Dörfchen vorhin, die Zufahrtsstraße weniger. Leider kein Brunnen dort. Freu mich auf Kuchen in Michaelstein, letztes Ziel meiner Tour. Ob‘s da nen Bus gibt? Oder ne Wurst am Bf. Blankenburg? Halluziniere ich schon...?

14:45h da!!! Und nach wenigen Minuten kommt ein Bus, der mich von Michaelstein nach Wernigerode bringt. Super! Zum Glück fährt der Zug direkt nach MD - umsteigen wäre jetzt echt mühsam! Ich humpele im Schneckentempo, aber Hunger hab ich kaum, es ist sogar noch etwas Brot + Schoki übrig.

Zuhause kann ich es dann nicht lassen, die sportliche Seite zu vermessen: 70km und 1850 Höhenmeter in insgesamt 29 Stunden, fast 8000kcal!

Insgesamt eine tolle Tour durch die Natur, die viele mir schon bekannte Punkte verband, eine grandiose Selbsterfahrung, etwas, worauf ich stolz bin - was ich aber so schnell nicht wiederholen möchte. Als Leistungs- und Willenstest für höhere Aufgaben beruhigend. Mit „Komfortverzicht“ habe ich jedenfalls kein Problem.
Der stärkste Eindruck vom Harz ist aber das Baumsterben! Ich war in so vielen Teilen des Gebirges, und überall entwurzelte Bäume, kahle Flächen, sehr viele Holzstapel. Andererseits: So abwechslungsreich! Manche Wege waren echt malerisch, besonders die Bachläufe und an den Klippen vorbei, auch wenn ich es bis zum schönsten Bodetal nicht mehr schaffen konnte.

Paul Hoffmann

Fachwerk in Goslar

Waldschäden überall

DAS ist ein Wegabzweig...?!

ein noch harmloses Hindernis

Gischt-Regenbogen am Romkerhaller Wasserfall

einsame Idylle am Marienteich

Wegfindung einfach gemacht...

kleines Frühstück

Lichtblick über trostlosen Flächen